Wyborg – eine russisch-finnische Stadt

Heute sind wir bei kühlen Temperaturen und heftigem Wind in Wyborg herumgelaufen. Ca. 80.000 Einwohner hat die Stadt und die alten Teile lassen sich alle gut zu Fuss erreichen. Auf dem großen Marktplatz steht ein Backsteingebäude aus der vorletzten Jahrhundertwende und hier findet täglich Markt statt.

Gemüse und Obst, Kleidung, Fleisch, Stoffe, alles das gibt es hier. Die Verkäufer und Verkäuferinnen sind auf Tourismus eingestellt, denn auf dem Markt parken die Reisebusse und die Gäste fallen hier zuerst mal ein.

Mich haben die Hausschuhe interessiert: finnische? karelische? Nein, die bunten Schuhe sind in Tadschikistan mit der Hand gefilzt, erklärt mir der Verkäufer. Bei den bunten Vögeln macht er sogar die Bewegungen, die beim Nadelfilzen nötig sind. Er kennt sich aus. Und er hat noch weniger bunte russische Walenki im Angebot. Vielleicht sollte ich auch noch davon welche mitnehmen, in Berlin sind sie im Winter modern gewesen. Finn / Finnin oder norvezhskiy / Norwegerin fragt mich der Verkäufer. Nein, nemka / Deutsche antworte ich. Da wird er noch freundlicher. 1986 -1987 war er als russischer Soldat gerne in Halle und Magdeburg. Er kann etwas mehr Deutsch als ich Russisch. Die  Verständigung klappt also. Wir haben Gemeinsamkeiten. Die Jahreszahlen seiner Stationierung in der alten DDR z.B. zeigt er mir auf dem Taschenrechner.

Beim Stoff schaue ich mir besonders die Meterware aus Leinen an. Woher kommt die? Ich weiß, dass im Baltikum Leinen hergestellt wird und viele der angebotenen fertigen Produkte habe ich letztes Jahr genau so in Tallin gesehen. Nein, dieses Leinen kommt aus Weißrussland. Ich kaufe ein bisschen davon. Mein Stück besteht neben Leinen noch aus einem anderen Material. Die Verkäuferin schreibt es mir auf, aber ich kann es nicht lesen. Versteht das jemand von euch? Die russische Schreibschrift ist so anders als die Druckschrift.

Weiter geht es auf die Burg, die auf einer kleinen Insel 1293 von den Schweden gebaut wurde. Hier gibt es offensichtlich im Sommer Ritterspiele und Handwerksvorführungen. Jetzt, noch in der Vorsaison, können Besucher sich als Scharfrichter oder Burgleute verkleiden und Selfies machen. Wir verzichten und gehen lieber ins Museum. Verschiedene Abteilung gibt es: Funde aus der Vorzeit, kleine Naturkundeabteilung, Zeit der Finnen, Krieg aus russischer Sicht. Am liebevollsten wird die finnische Zeit präsentiert. Über die jetzigen Einwohner der Stadt erfahren wir nichts.

Zumindest in den Teilen der Stadt, in denen wir uns bewegen (Hotel, touristische Highlights) ist der finnische Einfluß deutlich, es sind viele finnische Besuchergruppen in der Stadt, oft sind die Bezeichungen zweisprachig und finnische Laute sind vorherrschend. Schon im Vorfeld hatten wir gelesen, dass es auch hier (wie z.B. in Kaliningrad) Heimwehtourismus gibt. Alle Finnen mussten nach dem WInterkrieg die Stadt verlassen. Jetzt kommen manche als Besucher zurück. Über die Vertreibung der Finnen aus Karelien finden wir noch einen kleinen bewegenden Film auf der Burg. Anneriina Moisseinen, eine junge Frau aus Helsinki mit karelischen Wurzeln, hat darüber eine Graphic Novel gezeichnet und sie auch verfilmt.

Ich finde den kurzen Film im Internet. Hier ist der Link dazu.

Ich (Mechthild) besuche noch das Kriegsmuseum. Eine gespenstische Angelegenheit. Ich bin die einzige Besucherin auf dem alten Kasernengelände.

Emotional berührt mich dann die Sonderausstellung über russische Soldatinnen im 2. Weltkrieg und im Winterkrieg mit Finnland. Sehr ungewohnt für mich ist die Präsentation des Lebens von mehr als 30 Frauen auf Wandtafeln in vier Sprachen. Es gibt kurze Biografien über den militärischen Werdegang, die Anzahl der Kämpfe, die Anzahl der getöteten Feinde, die Zahl der Verwundungen und die Umstände des Todes. Manche Frauen haben den Krieg auch überlebt und sind alt und geehrt gestorben, manche später auch banal im Verkehr verunglückt. Das wirkt noch länger nach. Auch in der russischen Armee waren Frauen sehr selten direkt im Kampf beteiligt. Die Frauen in der Ausstellung waren Panzerfahrerinnen, Taucherinnen, Scharfschützinnen usw., also gleichberechtigte Kämpferinnen. Trotzdem bin ich bewegter als bei vergleichbaren Biografien von Männern. Da ist das so viel normaler.

Die Stadt macht einen sehr uneinheitlichen Eindruck: Viele, viele Häuser werden restauriert, gleichzeitig gibt es noch viel mehr zu tun.

 

Für dieses Haus ist es sicher zu spät.

 

Trotzdem, die Stadt ist schön. Ihre Lage am Wasser, die vielen alten Häuser, die alten Straßen, dazwischen immer wieder kleine Grünanlagen.

Schön war es die Stadt besucht zu haben.

Und hier noch das Fundstück des Tages:

 

 

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Mechthild Verfasst von:

2 Kommentare

  1. Christine
    10. Juni 2018
    Antworten

    Das Fundstück gefällt mir sehr gut! sollten wir hier auch irgendwo anbringen zur Irritation der Passanten….. Hier ist es total warm, mit nächtlichen Gewittern aufgemischt. In den Bäumen locken die Kirschen unerreichbar! weil sehr weit oben. ansonsten ist es der reine Sommer, fragt sich, wie der Sommer dann sein wird? Mit Windhosen oder geradezu marokkanisch? Dann muss man überhaupt nicht mehr verreisen!

  2. Karl
    11. Juni 2018
    Antworten

    Aber nur auf Reisen finden sich solche spannenden Fundstücke.
    Danke für deine Kommentare.
    Schöner Gruß
    Mechthild

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