Nicht ganz sicher waren wir uns im Vorfeld, ob ein oder zwei Tage Belomorsk passend sein würden. Jetzt ist klar, ein Tag hätte völlig gereicht. Der Plan für heute (morgens Museum, nachmittags Kanal) war in kurzer Zeit erledigt. Das Museum ist geöffnet, wir finden einen Raum für alle Themen zusammen. Petroglyphen, Kanalbau und die Geschichte der Stadt werden hier schnell erzählt. Die russisch sprechende Museumsmitarbeiterin ist sehr nett und mit uns ziemlich überfordert. Sie erzählt und erzählt und weiß doch, dass wir sie nicht verstehen. Exkursionen zu den Steinen und auch zum Kanal kann sie vermitteln, aber nur in Russisch. Wir wollten hier ja mehr über den Kanalbau lernen, die wenigen Ausstellungsstücke dazu lassen ahnen, wie primitiv die Mittel waren, die zur Verfügung standen.
Wir sind dann gleich weiter an den Kanal gefahren, Schotterpiste, alte aufgesprungene Betonstraße und normale russische Löcherstraße im Wechsel.
Dann der Kanal. Hier hat keiner das Fotografieren verboten. Zentrale Bereiche sind aber mit Stacheldrahtzäunen und Kameras abgesichert. Was wird hier wohl geschützt? Technikspionage halte ich für ausgeschlossen, vielleicht Schutz vor Terroranschlägen? An dieser Schleuse ankerten zwei Schiffe, es scheint ihr „Heimathafen“ zu sein. Auf dem Kanal wieder kein Verkehr.
Etwas weiter den Kanal entlang, an einem befestigten Ufer noch zwei Schiffe, dies ist eins davon. Über die Funktion konnten Karl und ich uns nicht einigen. Der gemeinsame Nenner ist: Arbeitsschiffe, keine Ausflugsdampfer.
Hier haben wir auch Holz im Wasser gesehen. Für den ursprünglichen Kanal wurde fast ausschließlich Holz und Steine verwendet. Alles Materialien, die in der Gegend gewonnen werden konnten. Im „Großen Vaterländischen Krieg“ entstanden erhebliche Schäden an den Schleusenwerken und Staudämmen. Repariert wurde mit Beton. Und es wird natürlich immer weiter ausgebaggert und verbessert. Von den alten kunstvollen Holzwerken ist also nur noch wenig zu sehen. Wir glauben, dass dies Reste sind:
Der Weißmeer-Ostsee-Kanal ist 227 km lang. 47 km davon sind künstlich angelegter Kanal. 19 Schleusen, 15 Staudämme, zwölf Wasserablässe, 49 Dämme und 33 künstliche Kanäle sind erforderlich, auch um die unterschiedlichen Niveaus auszugleichen (69 Meter nach Süden und 102 Meter nach Norden), denn der Rest sind natürliche Seen und Flüsse. Die Wasserstraße verbindet das Weiße Meer mit dem Onegasee. Von dort können Schiffe dann weiter über den Fluss Swir, durch den Ladogasee und die Newa bei Sankt Petersburg und dann in den finnischen Meerbusen / die Ostsee. Im Winter friert die Wasserstraße ca. 6 Monate zu.
Gebaut wurde der Kanal in 21 Monaten, 1931 bis 1932, von Zwangsarbeitern, fast ausschließlich mit den vor Ort vorhandenen Baumaterialien Holz und Erde. Die Zwangsarbeiter wurden speziell für dieses Projekt in das Gulag (BelBaltLag) verlegt. Nur für den Bau des Kanals wurden viele Fachleute verhaftet, weil ihr Spezialwissen hier erforderlich war. Die Zusammensetzung im Gulag scheint ein Spiegelbild der Schichten, Berufsgruppen und Ethnien des Landes gewesen zu sein. Alle, die zur Anfangszeit des Stalinismus im Fokus der Diskriminierung, Umerziehung oder Vernichtung standen: Bauern (Kulaken), Intellektuelle, Geistliche jeglicher Konfession, Adelige, Finnen, Balten, Wolgadeutsche, Drogenhändler, Kleinkriminelle, Sektenangehörige, Parteiangehörige nichtbolschewistischer Pateien, enteignete Hausbesitzer, Prostituierte usw. litten hier gemeinsam. Über das Verhältnis von Frauen und Männern konnte ich keine Informationen finden. Auch die tatsächliche Zahl der an der Baustelle eingesetzten Personen ist ungewiss, ebenso wie die Zahl der Opfer.
Unvorstellbar ist, dass es während der Bauzeit sogar verschiedenste, hochrangige, kulturelle Angebote gab: Konzerte, Opern, Ballettaufführungen, wissenschaftliche Vorträge und literarische Diskussionen. An qualifizierten Akteuren für diese Veranstaltungen gab es unter den Gefangene keinen Mangel.
So, jetzt ist genug mit diesem schrecklichen Kapitel der russischen Geschichte. Wer dennoch tiefer einsteigen will, hier meine Literatur zum Thema: auf die Studie „Stolzes Gedenken und traumatisches Erinnern. Gedächtnisorte der Stalinzeit am Weißmeerkanal“ von Ekaterina Makhotina und auf Alexander Solschenizyns „Archipel Gulag“ hatte Karl schon hingewiesen. Ich kann noch auf zwei Kapitel im Buch „Das Sowjetische Jahrhundert“ von Karl Schlögel dazufügen. Und natürlich gibt es verschiedenste Artikel mit unterschiedlichen Standpunkten im Internet. Am radikalsten ist sicher die Stellungnahme der MLPD von 2015. Die ist so abstrus, das ich sie nicht verlinke, aber wer Lust hat, sie zu suchen, wird sie auch finden.
Morgen fahren wir die lange Strecke bis Murmansk in einem Stück.
Hi Ihr Zwei, siehe persönliche Mail,bezüglich der Technik.
Weiterhin gute und störungsfreie Fahrt!
LG
Z