heute fahren wir weiter gen Norden und haben ein Häuschen in einer neuen Ferienanlage am Onega-See; hierzu unten mehr. Auf dem Wege machen wir einen Abstecher zu dem Naturpark Kiwats (oder manchmal auch Kiwatsch) ca, 50km nördlich von Petrozavodsk, in dem es den berühmten Wasserfall gibt, der sozusagen ein „Muss“ für jeden Karelientouristen ist. Er ist gut zu erreichen, von der E 105 führt eine gut ausgeschilderte Strasse praktisch bis zum Eingang, an dem man einen kleine Eintrittsgebühr (150 Rub.) zahlt – und für etwas mehr Geld kann man auch Souvenirs kaufen – und kurz danach hört man ihn schon brausen.
Ein kleines bißchen hat mich das ja an den Plitvizer See in Kroatien erinnert, obwohl der viel viel größer und beeindruckender ist. Aber auch hier kann man vom Felsen dicht an das tosende Wasser heran und photographieren. Das habe ich dann als folgsamer Tourist auch gemacht, zumal meine Photos viel besser und origineller sind als die anderen Millionen, die schon geknipst worden sind.
Ein schöner Abstecher in der Mittagszeit, dann weiter bis Medvedschjegorsk (Медвежьегорск). Dieser Ort war ausgewählt worden, weil er eine bedeutende Rolle spielt in der sowjetischen Geschichte: hier war das Zentrum der Organisation des Baues des Weißmeer-Ostsee-Kanals (Belomorsko-Baltijskij Kanal, auch Stalin-Kanal genannt). In der Zentrale – das Gebäude, in dem die OGPU, die Geheimpolizei und der Vorläufer des NKWD, residierte, steht noch, verfällt und beherbergt u.a. das städtische Museum – wurden alle Einsätze geplant und verwaltet und an Moskau weitergegeben.
Der Kanal selbst geht von Belomorsk bis Povenec in der Näher von Medveschjegorsk und wurde gebaut, um das Weisse Meer mit der Ostsee zu verbinden; schon Peter der Große hatte solche Ideen. Gebaut wurde der Kanal in den Jahren 1931-32 von Zigtausenden von Sträflingen und Zwangsdeportierten unter unmenschlichen Bedingungen fast nur mit körperlichen Kräften ohne Maschinen (die neue Sowjetrepublik hatte kein Geld).
Das ganze Projekt stand ideologisch unter dem Motto, dass durch harte gemeinsame Arbeit an einem kommunistischen Projekt auch Sträflinge, Verbrecher, „Kulacken“ zu neuen Menschen geformt werden könnten. Über das Projekt gibt es ein berühmtes – und leider antiquarisch kaum zu findendes – Werk, in dem Stalin und sein grandioser Plan dieses Projekts gefeiert werden, herausgeben u.a. von Maxim Gorki. Andere Mitarbeiter an diesem Werk wurden wenige Jahre später in der Zeit des Großen Terrors umgebracht. Es gibt eine Menge Literatur hierüber, ich empfehle die Lektüre von der Studie „Stolzes Gedenken und traumatisches Erinnern. Gedächtnisorte der Stalinzeit am Weißmeerkanal“ von Ekaterina Makhotina (erschienen im Peter Lang Verlag 2013). Auch Aleander Solschenizyn schreibt im „Archipel Gulag“ hierüber.
Wenige Kilometer entfernt liegt Povenec, ein kleines Dorf, wo die erste Schleuse des Kanals sich befindet (die man nicht photographieren darf, das folgende Photo existiert überhaupt nicht).
Auf dem Wege dorthin machten wir von unserem Domizil aus einen Abstecher nach Sandormoch. Dort, mitten im Fichtenwald, befand sich die Exekutionsstätte der Geheimpolizei; über 100 Massengräber wurden erst 1997 entdeckt. Heute ist hier eine Gedenkstätte. In den Jahren 1937-38, der Zeit des umfassenden stalinistischen Terrors, wurden hier Tausende von Menschen exekutiert, zumeist Angehörige von Minderheiten (Finnen, Esten, Deutsche, Roma, Litauer), die zu anti-sowjetischen Spionen erklärt worden waren. Die genaue Zahl ist nicht bekannt, auf diesem kleinen Gedenkstein wird berichtet, dass innerhalb weniger Tage Ende 1937 genau 1111 Menschen erschossen worden sind.
Jetzt ist hier eine Gedenkstätte eingerichtet, die einen zwiespältigen Eindruck vermittelt: es gibt viele private Kreuze mit Photos von toten Angehörigen, Blumen, Kreuzen. Sie stehen oft mitten im Wald, sind an Bäumen angebracht, oft auch an flachen Gruben, deren Ränder mit Blumen gekennzeichnet worden sind. Es sieht so aus, als würden Tote an den Stellen geehrt, an denen sie starben und gefunden worden waren, aber Fakt ist, dass diese Daten gar nicht bekannt sind, so dass die Angehörigen sich in ihrer Trauerarbeit einen anschaubaren Ort geschaffen haben. Dieser Teil des Gedenkens sieht aus wie ein normaler russischer Friedhof (inkl. der Tatsache, dass die Blumen immer sehr bunt und aus Plastik sind), es handelt sich um einen Ort mit ausschließlich religiösem Charakter.
Auf den offzielleren Gedenksteinen, die an umgebrachte Angehörige von Volksgruppen erinnern, wird dagegen klar politisch Stellung bezogen und von stalinistischem Terror gesprochen. Diese beiden Seiten zeigen glaube ich ganz gut das Dilemma solcher Erinnerungsarbeit auf: die Konzentration auf die persönliche Ebene rückt die Diskussion über die politische Vergangenheit und die Verarbeitung der Verbrechen in den Hintergrund.
und zu Naturdenkmalen wie dem Kiwats-Wasserfall fahren verständlicherweise mehr Menschen als zu solchen Gedenkstätten.
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