heute, am letzten Tag in Novgorod, wollten wir mal abseits der üblichen Touristenwege etwas Russland kennenlernen und beschlossen einen Ausflug um den Ilmensee (russ. Ильмень Озеро) im Süden von Novgorod herum. Wir wußten, dass wir da in ein Gebiet kommen, das im letzten Krieg eine bedeutende Rolle gespielt hat, weil bei heftigen Kämpfen Hundertausende russischer und deutscher Soldaten umkamen, aber wir wollten unseren Ausflug nicht darauf konzentrieren. Man kann dem Thema allerdings nicht ausweichen, es gibt immer wieder „Memorials“, Denkmäler, Panzer auf Podesten, Statuen mit Soldaten, der Krieg ist einfach unvergessen.
Wir wollten in erster Linie nach dem kleinen Ort Staraja Russa (russ. Старая Русса) am Südufer des Sees, in dem auch einige Zuflüsse in den See münden. Dieser Ort – etwas über 30.000 Einwohner – hat nämlich auch eine kulturell bedeutsame Geschichte, weil hier der berühmte Dichter Fjodor Dostojewski einige Zeit lebte (um 1875 herum) und auch noch in der Nähe Sergei Rachmaninow geboren wurde. Dostojewski hat in Staraja Russa seinen letzten Roman, die Brüder Karamasoff, geschrieben.
Die Fahrt dorthin – es sind etwa 100km – war ganz angenehm, es gab eine sehr gute Strasse, die meist schnurgerade (wirklich 50 km schnurgerade!!) verlief und wenig Verkehr hatte. Unterwegs Eindrücke wie bei dem ersten Abschnitt von Narva nach Novgorod: weite Landschaft, keine Erhebungen, Wald und Wiesen, manchmal kleine Ortschaften mit ein paar Holzhäusern.
Hier gibt’s ganz viele Insekten: unsere Windschutzscheibe war rasch übersät mit ihren Leichen. Das Problem war nur, das keine der Tankstellen eine Möglichkeit bot, mal mit Wasser und Schwamm die Scheibe zu reinigen. Sie hatten einfach kein Wasser (вода) im Angebot. Erst auf der Rückfahrt entdeckte ich eine Tankstelle, die Wasser und Wischer hatten, wie in in Narva in einem separaten Schrank an der Seite des Gebäudes angeboten, abschließbar.
In Staraja Russa war dann die Strassensituation ganz anders: alle Strassen waren in miserablem Zustand! An vielen Stellen wurde gebaut und erneuert, alle paar Meter führte aber noch quer ein kleiner „Graben“ rüber (vielleicht waren Kabel verlegt worden) und Schlaglöcher waren überall, durchaus gross und bis zu 20cm tief. Ich konnte das schon beim Ankommen daran sehen, dass die „Einheimischen“ Schlangenlinien fuhren. Wenn auf der rechten Spur Löcher waren, fuhr man eben auf die linke Seite und kurvte da irgendwie drum herum. Überall Staub und Dreck.
Manche Gebäude waren moderner, viele unverputzte Ziegelsteinhäuser aus Sowjetzeiten, nebenan oder gegenüber auch mitten im Ort alte Holzhäuser. Und dann immer wieder auch kleine Hinweise auf den „Kurort“, denen wir folgten, bis wir am Kurpark landeten. Das deutsche Wort ist direkt übernommen: курорт!
Der Kurpark war groß, gepflegt, angenehm schattig durch die vielen Bäume. Wir schlenderten durch bis zu dem Mineralwassertherapiehaus, vorher schon im Park fast wie im tschechischen Marienbad ein Brunnen in Form dieser berühmten Schnabeltasse, dann im Haus viele Zapfhähne, aus denen man sich das heilsame, jodhaltige Wasser abzapfen konnten. Manche Gäste kamen mit 5 Liter – Kanistern.
Im Park viele Bänke zum Entspannen, aber auch Gymnastikgeräte für die Fitness. Insgesamt ein kompletter Gegensatz zu dem heißen, sonnigen und staubigen Rest der Stadt. Ich weiß nun nicht, wer jetzt Kurgast ist und wie man das wird; in den ersten Jahrzehnten nach der Gründung kam ja sicher nur die reiche Oberschicht, aber heute? Mehr als ein paar Seiten aus „Die Brüder Karamasoff“, auf Mechthilds eBook-Reader verfügbar, habe ich übrigens nicht geschafft, vielleicht in Sankt Petersburg mehr.
Wir fuhren dann noch durch die Stadt auf der Suche nach einem Café, aber wir fanden keins. Für die Lernbegierigen: im Russischen heißt das Haus кафе und da trinkt man кофе! Im Ort wurde viel gebaut und dieser Platz soll wohl so etwas wie das Zentrum werden mit offiziell wirkenden Gebäuden, allerdings ohne jedes Geschäft und ohne jede Gastronomie. Wie auf dem Balkan ist es wohl auch hier (auf dem Lande oder in kleineren Städten) so, dass Ausgehen und Restaurantbesuche keine selbstverständlichen Möglichkeiten sind, was angesichts des niedrigen durchschnittlichen Monats-Einkommens von ca. 600 € (die Zahlen schwanken zwischen 500 und 700 €) auch verständlich ist,
Nach diesen Strassenerfahrungen und weil laut Landkarte die weitere Strecke um den See herum bis Novgorod eher verworren aussah ohne eindeutige Streckenführung, entschlossen wir uns, die gleiche Strecke wieder zurückzufahren. Hier noch als zusätzliche Erfahrung und Tip für autofahrende Russlandreisende: ein Ortsschild (weiß mit schwarzer Schrift) bedeutet Tempolimit auf 60km/h, und diese gilt, bis das Namensschild durchgestrichen ist. Dies gilt auch, wenn die Strecke zwischen beiden Schildern 2km lang ist und auf dieser Strecke nur 3 Häuser zu sehen sind! Es wird oft kontrolliert, auf der Rückfahrt habe ich mindestens 4 Radarfallen gesehen! Es kann teuer werden…
Abends letzter Ausgang zu einem Restaurant, morgen weiter nach Sankt Petersburg. Muss noch Rubel besorgen, weil auch der dortige Vermieter nur Bargeld akzeptiert (warum wohl?)
Ergänzung von mir, Mechthild
In den letzten Jahren haben wir immer mal wieder schöne oder auch schreckliche Grafitis gesammelt (hier und hier zu finden). Hier in Russland geht das nicht. Sie werden konsequent übergemalt. Die wenigen die übrigbleiben lohnen sich nicht.
Keine Grafitis dieses Jahr und stattdessen, zu meinem eigenen Vergnügen, eine neue Postserie über spezielle Essen und Trinken Fundstücke „Was wir gegessen haben„. Heute schreibe ich noch was zu Honigkuchen.
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