Daugavpils ist die zweitgrößte Stadt Lettlands und liegt ganz weit im Osten, 27 km von der Grenze zu Weißrussland entfernt. Wir nehmen die Stadt als kurze Rast für die Nacht, um dann nach Estland weiterzufahren. Unsere Reiseführer dafür sind relativ alt, denn durch dieses Land fahren wir ja nur hindurch. Riga hatten wir schon vor ein paar Jahren besucht, unser Schwerpunkt soll der Osten des Landes und dann Estland sein. Die Reiseführer sind sich einig, Daugavpils lohnt sich als Besichtigungsort nicht. Die verschiedenen kriegerischen Auseinandersetzungen der letzten beiden Jahrhunderte haben die Stadt völlig zerstört zurückgelassen. Die Menschen der großen jüdischen Gemeinde wurden deportiert und getötet, die restliche Bevölkerung ist geflohen und auch später nicht wiedergekommen und die historischen Gebäude wurden von den neuen Bewohnern nicht wieder aufgebaut. Uns interessiert, wie es sich hier in der europäischen Stadt ganz in der Nähe zu Russland lebt (wir konnten mit niemandem darüber sprechen, hier gibt es aber einen interessanten Beitrag dazu). In der Nachkriegszeit wurde von der Sowjetunion viel Industrie angesiedelt und neue Wohnungen entstanden in Plattenbausiedlungen. Viele Russen folgten diesen Arbeitsmöglichkeiten. 2011 hatte die Stadt 100.000 EW, davon waren 53,6% Russen, 19,8% Letten und 14,2 % Polen. In Daugavpils wird deswegen viel Russisch gesprochen. Das Stadtbild ist eine merkwürdige Mischung aus wenigen überwiegend unrenovierten Vorkriegsgebäuden, vielen etwas angegammelten Häusern aus der sozialistischen Zeit und renovierten Teilen. Wir haben Abendbrot in einem Cafe für jüngere Menschen gegessen, das so auch in Berlin oder Hamburg stehen könnte. Offensichtlich entwickelt sich die Stadt jetzt.
Unser Reise überrascht uns ja manchmal und mit Daugavpils ist es uns auch so gegangen. Am großen Fluss Daugav (Düna) liegt eine riesige Zitadelle, gebaut von 1810 – 1833. Sie ist als einzige in Osteuropa ziemlich vollständig erhalten. Schnell gebaut sollte sie zuerst gegen Napoleon schützen, aber als der dann kam, war sie gar nicht fertig. Zur Zeit der Zaren war sie Gefängnis, Lettland und dann die Sowjets nutzen die Anlage für ihre Soldaten, die Deutschen brachten hier Juden und russische Kriegsgefangene unter (und ermordeten sie bestialisch). Zuletzt, nach dem zweiten Krieg, nutzten die Russen sie wieder militärisch. Als uns klar wurde, daß es sich sehr lohnt, die Zitadelle zu besuchen haben wir beschlossen, noch einen Tag länger in Lettland zu bleiben und den Dienstag vormittag dort zu verbringen. Außerdem war klar, dass dort in der Festung eine Ausstellung über Mark Rothko war.
Die Zitadelle ist riesig, 2 km2. und von oben gesehen, sagt Karl, hat sie eine Schweinchenstruktur. Irgendwie kann ich das auch so sehen. Viele Jahre wurden in der Zitadelle nur die Wohngebäude genützt. Heute leben da 1200 Menschen in den alten mehrstöckigen Häusern, die für die Familien der Soldaten gebaut wurden. Die Festung ist ein richtiger Stadtteil von Daugavpils.
Mit Mitteln der EU und der Stadt werden jetzt auch die andern Gebäude und die dicken Festungsmauern und -tore schrittweise renoviert. Hier konnten wir uns ein gutes Bild darüber machen, wie die Anlage einmal wieder aussehen wird. Es lohnt sich wirklich, hier EU-Gelder einzusetzen. Das besondere dieser Zitadelle? Hier ein Zitat aus dem oben verlinkten Text:
Im schon renovierten Artillerie-Arsenal, im multifunktionalen Zentrum für zeitgenössische Kultur und Kunst, hat die kleine Ausstellung über den Künstler Mark Rothko einen guten Platz gefunden. 1903 wurde dieser als Marcus Rothkowitz in der Stadt geboren und seine jüdische Familie floh 1913 nach Amerika. In der kommunistischen Zeit war Rothko in Lettland vollständig unbekannt. Erst mit der Neugründung von Lettland wurde dieser wichtige ehemalige Bürger entdeckt und seine Heimatstadt erinnerte sich an ihn. Er selber ist nie wieder zurückgekommen. Zu seinem 100sten Geburtstag besuchten Familienmitglieder die Veranstaltungen in der alten Heimat. Der Kontakt scheint sehr fruchtbar gewesen zu sein. Im Museum werden jetzt, mit erheblichen Sicherheitsmaßnamen, 7 originale Werke ausgestellt. Einer der Aufpasser erzählte uns, dass das jetzt Leihgaben des Sohnes Christopher für zwei Jahre seien, danach würden sie gegen andere ausgetauscht. Originale Rothkos könnte sich die Stadt gar nicht leisten, die werden ja auf dem Kunstmarkt für teilweise zweistellige Millionenbeträge gehandelt. Die Leihgaben der Familie sind deswegen eine tolle Gelegenheit.
Im Gebäude gibt es darüber hinaus vielfältige Veranstaltungen, Workshops mit Künstern (die dann auch auf dem Gelände wohnen können) und wechselnde Ausstellungen anderer Künstler. Zur Zeit sind u.a. Werke von Edvard Munch zu sehen.
Mittags sind wir dann weitergefahren. An einem der großen Seen Lettlands liegt die Stadt Alūksne/Marienburg.
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