Spaziergang auf Inseln

wir hatten heute als Beginn der Aktivitäten den Besuch eines Flohmarkts bei der Metrostation Udelnaya eingeplant, wo man angeblich lt. Reiseführer allen möglichen und unmöglichen russischen und sowjetischen Ramsch finden kann. Aber: große Enttäuschung, es gab nur ein paar alte Frauen, die gebrauchte Kleidung anboten. Nichts mit gebrauchten Lenin-Orden! Es war aber doch auch ganz interessant, mal weit außerhalb des Stadtzentrums zu sein.

Zurück mit der Metro auf die Petrograder Insel, die drittgrößte der insgesamt 6 Inseln in der Newa-Mündung, auf der kleinen Haseninsel wurde als erstes die Peter-Paul-Festung erbaut. Diese Petrograder Seite wurde einer der Stadtteile der neuen Stadt Sankt Petersburg (die übrigens nicht nach Peter I. sondern nach dem Apostel Simon Petrus so benannt wurde!). Von 1914 bis 1924 hieß die Stadt dann Petrograd, danach bis 1991 Leningrad und jetzt wieder Sankt Petersburg.

Die Petrograder Insel wird vom nördlichen Arm der großen Newa und von der kleinen Newa begrenzt.

Eigentlich liegt hier die Keimzelle der Stadt. Das allererste Haus steht noch. Ein kleines Holzhaus, 12,7 mal 5,7m klein. Von hier aus überwachte Peter I. die Fortschritte des Baus seiner neuen Stadt. Das war 1703. Die Stadt ist also erst 315 Jahre alt. Dieses kleine erste Häuschen ist heute von einem etwas größeren Ziegelhaus umgeben und zu besichtigen.

Es gibt da sogar noch Teile (wie dieses Boot), die der Zar selbst gezimmert hat. Der hat nämlich tatsächlich eine kurze Zeit in den Niederlanden auf einer Schiffswerft gearbeitet.

Im Nordischen Krieg 1700 -1721 hatte Peter I. diese Gegend erobert und sich damit einen Zugang zum Meer verschaft. Er konnte seinen Wunsch, Russland auch zu einer Seemacht zu entwickeln, realisieren. Der erste größere Bau hier war die Peter Paul Festung. Eine große Festung mit 6 mächtigen Bastionen, die nie angegriffen wurde.

Der Anfang war mühselig. Das Gelände sumpfig, Tausende von Arbeitern starben. Die Stadt an dieser Stelle wurde von Peter I. „erzwungen“: der Adel wurde verpflichtet, hierhin zu ziehen, und nur hier durften Steinhäuser erbaut werden. In der Folge kamen alle Maurer hierhin und Moskau blieb die Stadt der Holzhäuser. 1712 wurde die neue Stadt sogar Hauptstadt Russlands.

Im Zentrum der Festung steht die Peter Paul Kathedrale mit ihren goldenen Kuppeln, Grablege vieler Zaren.

 

Wir haben sie nicht besichtigt, wir waren zu spät dran, das Ticket-Office war bereits geschlossen. Vielleicht an einem anderen Tag.

Es gibt mehrere große Denkmale von Zar Peter I. in Petersburg. Dieses ist sicher das despektierlichste. Der Kopf ist viel zu klein, die spinnenartigen Finger sehen aus, als hätte er Arthrose. Ein Modell aus den 70er Jahren. Die asiatischen Gruppen berührten seine Hände und Knie, die inzwischen alle goldig glänzen. Keine Ahnung, welches Schicksal dem beschieden ist, der das tut. Ich habs lieber nicht probiert.

Die Petrograder Insel ist ein richtiger Stadtteil mit hohen Wohnhäusern (eins hatte diese Kachelwände an den Eingängen), lauschigen Parks und Cafes und Restaurantes.

Unser Ziel am Morgen war das Museum der Politischen Geschichte Russlands. Ein beeindruckendes Museum, das jedem, der Russland besucht, zu empfehlen ist. Präsentiert wird die Geschichte beginnend mit der kommunistischen Revolution bis zum Beginn der Ära Putin. Insbesondere die Geschichte der Revolution und der Entwicklung des Landes zur Sowjetunion und ihr Niedergang wird ausführlich und außerordentlich kritisch dargestellt.

Viele, viele Schriftstücke, Fotos, Tagebücher, Tonbandaufnahmen mit Reden  und einige wenige Exponate wie Mäntel, Gewehre, Orden usw. gibt es zu sehen. Mit dem deutschsprachigen Audioguide im Ohr hatte ich keine Probleme, die ausgestellten Dinge  zu verstehen. Die Präsentation ist nicht modern, obwohl der letzte Anbau und die neueren Ausstellungsteile von 2014 stammen.

Aber es war sehr beeindruckend, die Geschichte der Sowjetunion und insbesondere die Machtkämpfe innerhalb der Partei und die dirigistischen Maßnahmen für die Bevölkerung so kompakt vorgeführt zu bekommen. So viele falsche Versprechen, so viel Leid, so viele Opfer und so viele Tote!

Mich beschäftigt erneut der Widerspruch zwischen der Ideologie und der Realität des Kommunismus. „Der Krieg formt seine Leute“, das hat Christa Wolf in ihrem Buch Kassandara geschrieben und zitiert wurde es neulich von Henning Melber in seinem Vortrag über die Grenzen nachkolonialer Macht in Afrika an der Uni Bielefeld. Er beschreibt den „Webfehler“ in bewaffneten Freiheitskämpfen, die nur erfolgreich sein können, wenn sie mit Gewalt vorgehen. „In allen Freiheitsbewegungen hat es erhebliche Vergehen gegen die Menschenwürde gegeben“, sagte er, und diese Gewalt wird dann auch Bestandteil der neuen Struktur. „Sie gaben ihre Menschlichkeit preis und erwarten im Gegenzug bedingungslose Loyalität zu einer Form des Kampfes, die als ein unaufhörlicher Dienst an der Heimat und ewiger patriotischer Akt propagiert wird.“ Melber geht es um Namibia und die SWAPO. Ich kann aber Analogien erkennen.

Der älteste Teil des Museums war übrigens ursprünglich die Villa einer Petersbuger Ballerina mit erotischen Beziehungen zu den Romanows. Ihr Haus wurde ganz früh von den Bolschewiki als Zentrale konfisziert. Ein schönes Haus hatten die sich da ausgesucht. Und es gab da einen Balkon, von dem aus Lenin flammende Reden gehalten hat.

Auf dem Weg, am Ufer der Insel liegt auch noch das berühmte Schiff Aurora. Der Panzerkreuzer gehörte zur Kaiserlich Russischen Marine. Von hier wurde am 25. Oktober 1917 der Schuss abgegeben, der das Signal für die Erstürmung des Winterpalastes und letztlich der Beginn der Oktoberrevolution war. Sie liegt da mit ihrem grauen Militäranstrich und wird von Touristen und Touristinnen gestürmt, die sich mit jungen Matrosen fotografieren lassen.

Auch auf der Insel liegt die alte (und lange Zeit einzige) schöne Moschee der Stadt. 1912 wurde sie gebaut. Ein besonderer Blickfang in der Straße. Sie wurde nach Vorbildern aus Samarkant entworfen und erscheint so zunächst sehr fremd mit den vielen bläuen Majolika-Kacheln und den hohen Türmen.

Auf dem Rückweg zur Wohnung sind wir über mehrere Brücken spaziert und haben uns genau angeschaut, wo die Brücken gehoben werden können. Das passiert noch täglich ab ca. 2 Uhr in der Nacht und ist sicher ein tolles Schauspiel. Wir sind fest entschlossen, uns das noch anzuschauen.

Wir kamen auf die Wassiljewskij-Insel, die Sonne schien auf dem Rückweg die ganze Zeit und in der Stadt war an diesem Samstag eine wunderbare Stimmung. Ganz viele Menschen waren unterwegs. Überall spielten Bands (die nicht nach 20 Minuten ihren Standplatz wechseln mußten!), es gab Straßentheater, eine Tanzschule veranstaltete ein öffentliches Tangotanzen – wie  gerne hätte ich mitgetanzt, wenn ich nur tanzen könnte. So blieb nur zuschauen.

Und das Fundstück des Tages:

ein Doppelbus, umgebaut zur öffentlichen Toilette; auf der einen Seite für Männer, auf der anderen Seite für Frauen. Gute Idee und eine schöne Alternative zu den Dixi-Klos, die es hier auch sonst oft gibt.

 

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Mechthild Verfasst von:

2 Kommentare

  1. Uli Hentschel
    4. Juni 2018
    Antworten

    Es ist schon etwas Besonderes, an Euren detaillierten, differenzierten und da wo
    möglich, menschennahen Erlebnissen und Erfahrungen auf Euren Teiletappen
    teilhaben zu können. Die gut sortierte Fülle an Informationen , die textliche auf-
    Bereitung, sowie das Nichtverkneifen persönlicher Anmerkungen führen zu
    einem zeitnahen „“ Verschlingen „“ der Texte.
    Liebe Grüße ,
    Barbara und Uli

  2. Mechthild
    4. Juni 2018
    Antworten

    Lieber Uli, liebe Barbara,
    es ist uns ein Vergnügen.
    Bis bald
    Mechthild (und Karl auch)

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