der Stadtteil Kalamya („Fischhaus“) liegt im Nordwesten von Tallinn, und wie der Name schon sagt, war ein Fischerdorf hier Ausgangspunkt der Bebauung. Später wohnten dort auch Arbeiter, als die Industrialiiserung neue Arbeitsplätze schuf z.B. in der Eisenbahnfabrik, die wir dann auch auch sahen. Der Ort – gut erreichbar mit Tram und Bus – hatte lange Zeit eher einen schlechten Ruf wegen der heruntergekommenen Häuser, der leerstehenden Fabriken und schlechten Wohnverhältnisse. Als dann allmählich entdeckt wurde, dass er einen besonderen Charme hat wegen der vielen alten und typisch estnischen Holzhäuser, veränderte sich das Bild.
Wir sind durch den Ort geschlendert und haben zum einen viele dieser alten Häuser gesehen, die meist zweistöckig sind mit mittiger Eingangstür, in manchen Strassen aber bevorzugt dreistöckig, dann mit gemauertem mittleren Treppenhausteil. Viele sahen noch sehr renovierungsbedürftig aus, wobei es wahrscheinlich nicht ausreichen wird, nur das Holz zu streichen, weil die sanitären Anlagen sicher auch auf altem Stand sind.
Sehr oft haben wir aber auch schon neue Wohnkomplexe gesehen, die durchaus versuchen, in ihrer Gestaltung den Charakter der Kleinstadt aufzunehmen, aber sicher schon so modern sind, dass schlichte Normalverdiener sie sich nicht leisten können.
Der Prozeß der Gentrifizierung ist nach unserem Eindruck hier voll im Gang, und ich bin sicher, dass in zehn Jahren noch viele der alten Holzhäuser verschwunden sein werden. In unmittelbarer Nachbarschaft zu den Teilen mit den Holzhäusern gibt es jetzt auf dem Gelände alter Fabriken das aufstrebende Telliskivi Loomelinnak (Creative City). Eine höchst interessante Mischung von alten Fabrikruinen und modernen Neubauten. Junge und unternehmungslustige Leute haben hier Bars, Shops, Yogastudios, Gastronomie und Ateliers eröffnet, und hier sieht man kaum klassische biertrinkende Touristen.
Die Industrialisierung begann hier mit dem Bau der Eisenbahn Tallinn – St. Petersburg und der Gründung der Baltischen Eisenbahnfabriken 1869. Dies wiederum zog weitere Fabriken nach sich. Vorübergehend wurde das Gelände dann nach Kalinin benannt, dem Mitglied des Leninschen Politbüros, der Anfang des 20. Jahrhunderts ein paar Jahre in Tallinn lebte (nach dem übrigens auch Kaliningrad – Königsberg benannt wurde!). Die Fabriken sind alle stillgelegt. Ein kleiner Rest der alten Sowjetzeit ist noch da: ein feines preisgünstiges Restaurant hat sich in zwei alten Eisenbahnwaggons der ehemaligen Bahnlinie Tallinn – Moskau niedergelassen!
In diesem Viertel kann man sich stundenlang aufhalten, beobachten, einkaufen, essen und trinken, die Atmosphäre geniessen, große Grafitti und andere Kunstwerke bewundern;
der Service ist überall toll, das junge Personal spricht fließend englisch.
Beim Gang zur Strassenbahnstation sind wir direkt neben der Telliskivi Strasse auf den Balti Jaam (Baltischer Bahnhof) gestoßen. Es gibt hier auch noch einen Bahnhofsbetrieb mit mehreren Gleisen, aber dominiert wird das Gelände durch neu gebaute Hallen mit Markt und Geschäften. Diese sind in der jetzigen Form nach Intensivumbau erst im Frühjahr 2017 wieder eröffnet worden. Es gibt Geschäfte mit Antiquitäten (insbesondere auch aus der Sowjetzeit), Kleidung, Lebensmitteln, es gibt einen Bio-Markt mit allen guten und teuren Bio- und veganen Lebensmitteln und vieles mehr.
Von aus Kalamaya sind wir an den nahen Hafen gegangen sind, wo wir die ein- und ausfahrenden Fähren und Cruisers sehen konnten. Dabei ist uns direkt am Wasser ein mit Stacheldraht abgesperrtes Gelände aufgefallen. Ein jungen Österreicher, der hier photographierte, erzählte uns, dass dies das ehemalige KGB-Gefängnis sei, was man jetzt wegen Baufälligkeit nicht mehr betreten könne. Nachforschungen von Mechthild ergaben, dass es sich um das alte Gefängnis Patarei handelte.
Patarei wurde primär als Festung angelegt in der Zeit von Zar Nikolai I. zum Schutz der Einfahrt in die Bucht von Petersburg, aber es war bald bedeutungslos. Die erste estnische Republik ab 1918 benutzte es als „normales“ Gefängnis, später war es Arbeits-, Konzentrations- und Vernichtungslager der Nazis, die hier auch Hunderte von Juden aus Estland und Frankreich umbrachten, dann übernahmen die Sowjets bis zu ihrem Abzug. In dieser Zeit war Patarei wirklich ein Höllenloch und zahlreiche prominente estnische Intellektuelle und Politiker wurden hier ermordet oder von hier nach Sibirien deportiert, was für viele auch das Todesurteil bedeutete.
Über die Geschichte, den Zustand und die Überlegungen, was man mit diesem Geschichtsdokument machen kann, informiert dieser Film, auch in deutscher Sprache abzuspielen. Auf der Seite weiterklicken bis zum Film „Patarei erwacht“.
Es gibt übrigens sonst noch durchaus intakte Relikte aus Sowjetzeiten: ich bin sicher, ich habe bei einem unserer Gänge einen Kanaldeckel mit kyrillischer Schrift gesehen, und ich werde ihn wiederfinden! Daneben gibt es z.B. das alte Stockmann-Kaufhaus mit dem Stern oben drauf.
Morgen wird es regnen. Mal sehen wozu wir dann Lust haben.
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